Spiel und Tätigsein als Bildung

Vom Greifen, zum Begreifen, zum Begriff

Kindliches Lernen im Vorschulalter geschieht nicht durch kognitive Lernprogramme,
sondern allein durch praktisches Tun. Schon das kleine Kind ist unermüdlich tätig, sobald
es wach ist. Tätigkeits- und Bewegungsdrang prägen das kindliche Spiel in den ersten
Lebensjahren. Wir Erwachsene müssen dafür sorgen, dass das kleine Kind in seinem Umfeld viele Möglichkeiten hat, Sinnes- und Bewegungserfahrungen jeglicher Art zu machen.
Bewegung und sinnliche Wahrnehmung stellen für das Kind den Zugang zur Welt dar.
Diese Erfahrungen sind die Grundlagen kindlichen Handelns und bilden die Basis jeglichen Lernens. Das Kind erforscht, erobert und begreift mit allen Sinnen seine Umgebung.
Mit Hilfe seiner Phantasie gibt es den Dingen in seiner unmittelbaren Umgebung Gestalt
und Bedeutung. Diese vielfältigen Eindrücke und Erfahrungen werden über die Sinne aufgenommen, gespeichert, verarbeitet und entwickeln sich so nach und nach zu Erkenntnissen, auf die das Kind jederzeit zurückgreifen kann. Jede dieser gemachten Sinnes- und
Bewegungserfahrungen dient der ganzheitlichen Entwicklung der kindlichen Wahrnehmung. Alle erlebten Erfahrungen hinterlassen Spuren im kindlichen Gehirn, es wächst und
vernetzt sich so zunehmend.

„Erzähle mir und ich vergesse.
Zeige mir und ich erinnere.
Lass es mich tun und ich verstehe.“
(Konfizius)

Kinder brauchen eine unmittelbare Welt. Eine Umgebung, die echt, transparent und somit
für sie nachvollziehbar und begreifbar ist. Nur so können sie selbständig Sinnzusammenhänge entdecken und erfahren, wie die Dinge um sie herum nach Regeln
funktionieren, sich wiederholen, aber auch veränderlich sind. Das Kind kann sich so als
Akteur seiner selbst erleben und erfährt was es schon kann. Es hat die Möglichkeit, seine
Grenzen immer wieder neu auszuloten. Damit schafft es die Voraussetzung für die Entwicklung seines gesunden Selbstbewusstseins und eines positiven Selbstwertgefühls.
Beim Konsum von Medien hingegen bleibt das Kind weitgehend passiv und kann sich
nicht selbstwirksam erleben.

Bedeutung und Stellenwert des Spiels

Spielen ist die zentrale Tätigkeitsform im Leben des Kindes. Es gibt für Kinder keine
ernsthaftere Möglichkeit zur Bildung als im Spiel. Mit Spiel sind freiwillige, lustbetonte,
zweckfreie, phantasievolle Betätigungen des Kindes gemeint. Das Spiel hat deshalb eine
überragende Bedeutung für die ganzheitliche Entwicklung des Kindes, weil es:
Motorik, Wahrnehmung und Interaktion mit Anderen fördert,
zum Aufbau und der Erweiterung der Persönlichkeit dient,
die Basis für den Erwerb bedeutsamer Lernprozesse bildet,
dem Kind hilft, sich in seiner Welt zu orientieren, sie handelnd zu begreifen.
Von der Entwicklung des Kindes her gesehen, ist jede Form des Spiels ein Lernvorgang.
Jean Piaget sagt: „Alles was wir Kinder lehren, können sie nicht mehr selbst entdecken
und damit wirklich lernen.“ Spielen, Tätigsein, Lernen und Persönlichkeitsentwicklung
sind demnach untrennbar miteinander verbunden. Wir unterstützen das Kind emotional,
lassen es aber seine Lernerfahrung selbst machen und das Erfolgserlebnis genießen. Viele solcher „Ich-kann-Erlebnisse“, auf unterschiedlichen Ebenen, unterstützen und fördern
die ganzheitliche Entwicklung der Persönlichkeit des Kindes.
Im gemeinsamen Spiel geschieht die Begegnung mit dem und den Anderen. Dabei erweitern die Kinder ihre emotionale und soziale Kompetenz. Es werden auch Spannungen
und Ängste, belastende Erlebnisse und Eindrücke, die im Alltag auf die Kinder einwirken,
bewältigt und verarbeitet. Das Kind kann sich durch die spielerische Verarbeitung entlasten, es spielt sich frei.

Die Spiel- und Betätigungsmöglichkeiten

Unser Naturkindergarten bietet den Kindern einen Lebensraum, der viele Möglichkeiten
zum Bewegen, Gestalten, Erforschen, Entdecken, Lernen und Begegnen offen lässt. So
bietet schon alleine das urwüchsige Gelände unseres Kindergartens – in unmittelbarer
Nähe zur Jugendfarm – eine Sinn und Phantasie anregende Atmosphäre. Im täglichen
Umgang mit Wasser, Sand, Steinen, Erde, Holz, Tieren und Pflanzen macht jedes Kind,
ganz spielerisch, die für seine gesunde Entwicklung entscheidend wichtigen elementaren
Sinneserfahrungen. Die Kinder werden angeregt, von sich aus tätig zu werden. Um den
Kindern die Möglichkeit zu geben, ihre ureigene schöpferische Kreativität zu entfalten,
verzichten wir weitestgehend auf vorgefertigtes Spielzeug. Die Kinder finden auf unserem
Gelände und in der näheren Umgebung (auf gemeinsamen Spaziergängen) die für sie
wichtigen Dinge zum Spielen. Zusätzlich stellen wir den Kindern richtiges Handwerkszeug (Hammer, Säge, Feile, etc.) und einen Werktisch mit Werkmaterial zur Verfügung. Sie nutzen gerne die Möglichkeiten, sich mit den Werkzeugen und den vorhandenen Materialien
eigene Spielsachen zu bauen. Dabei lernen sie nicht nur den Umgang mit verschiedenen
Materialien und Werkzeugen, sie versuchen auch ihre abstrakten Vorstellungen von ihren
Spielsachen zu realisieren und Stück für Stück wachsen zu lassen.

Im Werkbereich dürfen die Kinder Erfahrungen in verschiedenen Techniken wie Bohren, Sägen, Nageln oder Feilen sammeln. Ziel ist dabei nicht ein erkennbares Produkt,
sondern der Umgang mit Werkzeug sowie Material und nicht zuletzt der Prozess selbst.
Dieser erfordert Geduld, Konzentration und Ausdauer, oft auch Teamwork. Wenn das Vorhaben geglückt und das Werk vollendet ist, erfährt dieses eine hohe Wertschätzung durch
das Kind und durch die Gruppe, die mitgewirkt hat. So erleben sich die Kinder selbst
handelnd und werden zu weiteren „Ich-kann-Erlebnissen“ ermutigt.

In unserem Sandbereich finden sich viele Alltagsgegenstände (Geschirr, Besteck und
dergleichen) und richtiges Werkzeug (Schaufel, Rechen, Besen), die das Spiel der Kinder
anregen. Im Sandbereich darf mit Wasser, Sand und Erde experimentiert werden. In ihm
soll gegraben, gebaut, „gekocht“ und kommuniziert werden. Durch den Umgang mit den
Werkzeug und Alltagsgegenständen, im Garten, im Sand, in der Küche und am Werktisch,
erfährt das Spiel der Kinder einen ernsthaften Charakter.

Jede Kindergartengruppe verfügt über einen kleinen Garten, den wir zusammen mit den
Kindern bepflanzen. Die Kinder erleben ganz unmittelbar, wie ihre Blumen und das Gemüse langsam, in ihrer Zeit, wachsen und welcher Pflege das Beet bedarf, bis geerntet
werden kann. Ebenso erfahren sie die Weiterverarbeitung der Ernte und eine ganz besondere Wertschätzung für das selbst Angebaute und hiervon zubereitete Essen.

Ebenso beteiligen wir uns regelmäßig an der Tierpflege auf der Jugendfarm, wo wir für die
Versorgung verschiedener Tiere zuständig sind. Dabei achten wir darauf, dass genügend
Zeit bleibt, um mit den Tieren in Kontakt zu kommen, sie zu beobachten und sie mit allen
Sinnen wahrzunehmen. Unser Anliegen ist auch, die Tiere in ihren verschiedenen Wesenheiten kennenzulernen und zu erfahren.

Spaziergänge und Waldtage sind feste Bestandteile unseres Alltages. Zum einen dienen
sie der Befriedigung des kindlichen Bewegungsdranges, zum anderen zur Erkundung und
Erforschung der Umgebung, der Mitwelt. Der achtsame Umgang mit und die Beziehung
zur Natur schaffen eine wertschätzende Haltung.

Neben diesen für die Kinder zum Teil verbindlichen Tätigkeiten, bieten sich im Kindergartenalltag auch eine Fülle an Spielformen, Spielmöglichkeiten und Spielräumen, die sie
täglich frei wählen können. Das kindliche Spiel braucht Zeit und Raum, Ruhe und Muse.
Um den Kindern die für sie überaus wichtigen unterschiedlichen Spielerfahrungen zu ermöglichen, legen wir im Alltag Wert auf das freie Spiel. Das bedeutet, dass das Kind sich
frei und selbständig entscheiden kann was, womit, wo und mit wem es spielen möchte.
Bunte Tücher, Seile, Decken und Kisten regen die Kinder dabei zum Rollenspiel an.

Für das kreative Gestalten stehen den Kindern neben einer Staffelei, verschiedene Farben, Papiere und vorwiegend natürliche Materialien (wie z. B. Federn, Holzperlen, Muscheln, Wolle) zur Verfügung. Vom Nähkästchen, mit Stoffen, Nadel und Faden, bis zu
einfachen Musikinstrumenten, haben wir für die unterschiedlichsten Interessen der Kinder
Material vorrätig. Diese Materialien werden sowohl im freien Spiel als auch für angeleitete
Angebote genutzt.

Wichtig ist uns auch ein gut bestückter Bücherkorb, zu dem die Kinder jederzeit Zugang
haben. Immer wieder finden wir Zeit, um zusammen ein Bilderbuch zu betrachten, Märchen oder Geschichten zu erzählen. Spiellieder, Fingerspiele, Puppenspiele und Kreisspiele sind regelmäßig wiederkehrende Elemente unseres Alltags und fördern nicht nur
die Sprachentwicklung spielerisch, sondern ebenso das soziale Miteinander.

Von Zeit zu Zeit schaffen wir Anreize Neues auszuprobieren oder kennen zu lernen. Im
spielerischen Umgang mit neuem Material oder einer neuen Thematik oder Technik liegen
wichtige Herausforderungen, denen sich die Kinder einzeln oder gemeinsam stellen.

Im Kindergartenalltag gibt es eine Balance zwischen freiem Spiel und angeleiteten Tun.
Kinder haben auch das Anrecht darauf, Dinge gezeigt zu bekommen, um sie selbst auszuprobieren. Immer geht es darum, dass das Kind selbst tätig wird. Durch die Gestaltung
der Umgebung und kleinen Veränderungen der Spielbereiche werden neue Anreize geschaffen und Spielideen angeregt.

Gefördert wird das Tätigsein der Kinder auch durch das Vorbild von Erwachsenen, die
selbst mit Begeisterung bei der Sache sind. Das Spiel und das Tätigsein des Kindes sind
– neben der Beziehungsdimension – die Grundlagen aller Bildungsprozesse.